Christian Ude

Armutswanderung und Reichtumswanderung

Von am 19. Februar 2015

Eine Herausforderung für Deutschlands Städte

Vortrag von Altoberbürgermeister Christian Ude am 19. Februar 2015 im Mannheimer Zentrum für europäische Wirtschaftsforschung

Mein Respekt vor der Wissenschaft ist so groß, das ich es niemals wagen würde, meinen folgenden Ausführungen auch nur einen wissenschaftlichen Anschein zu geben, beispielsweise durch umfangreiches Datenmaterial, Quellenangaben, Literaturhinweise oder Fußnoten. Dies ist nur ein Referat eines Praktikers, der allerdings in den letzten 25 Jahren als Oberbürgermeister wie auch zeitweise als Städtetagspräsident intensiv mit Wanderungsbewegungen, ihren Auswirkungen und ihrer politischen Resonanz zu tun hatte.

Erste These: Die meisten politischen Reaktionen sind kaum auf Tatsachen zurückzuführen, sondern sogar hauptsächlich auf vorgefasste Meinungen, also auf Vorurteile. Allerdings gibt es Vorurteile der unterschiedlichsten Art.

Angesichts bedrohlicher Stagnations- und Schrumpfungsprozesse in vielen Landesteilen, Regionen und Kommunen ist die Behauptung „das Boot ist voll“ vor allem ein Ausdruck der vorweggenommenen Bewertung, dass Zuwanderung unerwünscht sei. Bezeichnenderweise ist dieser Ausruf am lautesten und heftigsten erfolgt in Städten, die kaum mit Zuwanderung eigene Erfahrungen sammeln konnten. Das gilt für Hoyerswerda zu Beginn der 90er Jahre genauso wie für Pegida-Demonstrationen in Dresden in diesem Jahr.

Auch die Gegenthese, dass jede Zuwanderung als Bereicherung zu sehen sei, ist kaum auf Tatsachen gestützt, sondern vielmehr auf vorweggenommene Bewertungen. Wer positiv eingestellt ist zur Zuwanderung, stellt den heutigen Soziallasten die heutigen Sozialbeiträge der zugewanderten Bevölkerungsteile gegenüber und kommt zu einer positiven Bilanz. Dass dabei jahrzehntelange Arbeitsmigration stärker zu Buche schlägt als aktuelle Flüchtlingsströme, bleibt häufig unberücksichtigt. Dass es bei Flüchtlingen gar nicht auf die ökonomische Bewertung ankommen darf, weil sie aus humanitären und völkerrechtlichen Gründen ein Bleiberecht haben, wird bei der ökonomischen Betrachtungsweise schlichtweg ausgeklammert. Wenn man aber ökonomisch argumentieren will, muss man zwischen qualifizierten und arbeitswilligen Zuwanderern einerseits und Zuwanderern, die voraussichtlich noch lange Zeit Hilfeempfänger sein werden, andererseits unterscheiden. Die These, dass jede Zuwanderung eine Bereicherung sei, wird jedenfalls der Situation von Kommunen, die vor Ort tatsächlich eine Zuwanderung in die Sozialsysteme erleben, nicht gerecht. Dies erklärt den Hilferuf von meist wirtschaftlich schwachen Kommunen, die in den vergangenen Jahren Brennpunkte der Armutszuwanderung aus den neuen EU-Beitrittsländern erlebten.

Zweite These: Die kommunale Realität des Migrationsgeschehens stellt sich in verschiedenen Städten äußerst unterschiedlich dar. Die Situation ist nach meiner Beobachtung weitgehend abhängig von der ökonomischen Struktur der Städte, nicht von ihrer geografischen Lage in Deutschland oder der parteipolitischen Konstellation vor Ort. Städte mit gutem Job-Angebot wie München, Stuttgart, Frankfurt, Düsseldorf oder Hamburg, erleben besonders intensiv eine arbeitswillige und arbeitsfähige Zuwanderung, die von den Arbeitgebern ausdrücklich gewünscht und von den Arbeitnehmern nicht als gefährliche Konkurrenz erlebt wird und auf dem Arbeitsmarkt schnell eine Eingliederung erfährt, der die gesellschaftliche Integration geradezu reibungslos folgt.

Strukturschwache Städte sind trotz ihrer wirtschaftlichen und damit auch finanziellen Schwäche dennoch ebenfalls ein Brennpunkt der Zuwanderung, aber einer ganz anderen Art von Zuwanderung. Diese Städte haben nicht Jobs zu bieten, aber Platz. Es gibt leerstehenden und vergleichsweise extrem preiswerten Wohnraum. „Pioniere“ der Migration können ihre Familie, ihre Verwandtschaft, ihre Dorfbevölkerung nachziehen, weil die fehlenden Erwerbsmöglichkeiten bei Anspruch auf Sozialleistungen keine hinderliche Rolle spielen und der vorhandene Wohnraum die Unterbringung garantiert. Dies gilt beispielsweise für Duisburg, Gelsenkirchen und Recklinghausen, die sich beim Thema Armutswanderung besonders nachdrücklich zu Wort gemeldet haben. Mit den Kosten der örtlichen Sozialleistungen sind die armen Städte in besonderer Weise überfordert, es hilft ihnen nicht im Geringsten, wenn ihnen vorgehalten wird, dass sozialversicherungspflichtige Zuwanderer in boomenden Städten kein Problem darstellen und in kurzer Zeit gut integriert werden können. Die gesamte Debatte muss realitätsbezogener und ehrlicher werden!

Meine dritte These: Den Städten macht nicht nur die bis zum †berdruss diskutierte Armutswanderung zu schaffen, sondern auch die politisch kaum thematisierte Reichtumswanderung. Damit meine ich nicht nur die „Migration der Besserverdienenden“, die unter dem Thema „Gentrifikation“ ebenso heiß wie naiv diskutiert wird, sondern vor allem die Wanderung der Kapitalströme, die extrem negative Auswirkungen auf die Entwicklung vieler Städte haben und den sozialen Zusammenhalt gefährden.Groteskerweise ist der finanziellen †berschwemmung der Immobilienmärkte in attraktiven Städten eine regelrechte Kapitalflucht beispielsweise in den US-amerikanischen Hypothekenmarkt vorangegangen. Hier stelle ich – bei allem Respekt vor der Wissenschaft! – ein Totalversagen der einschlägigen Lehrstühle, Fakultäten und Institute wie auch nahezu ausnahmslos aller weltweit überschätzten Unternehmensberatungsfirmen fest. Sie alle haben jahrelang den großen Unternehmen eingebläut, sie müssten ihren großen Immobilienbesitz in Deutschlands Städten so schnell wie möglich verscherbeln, weil lachhafte Renditen um die 4 Prozent den Vergleich mit den traumhaften Gewinnchancen auf dem Subprime-Markt nicht aushalten und uneinsichtige Unternehmen zu †bernahmekandidaten machen könnten. So haben sie gesprochen, die Professoren, die Analysten und Berater, die in den wirtschaftsradikalen Jahren die größte Privatisierungswelle auf dem Wohnungsmarkt erzwungen haben. Und dann? Dann haben die Unternehmen gemerkt, dass man auf der Börse sein Vermögen nicht nur verdoppeln, sondern auch verspielen kann – und heute treiben sie nach einer radikalen Kehrtwende die Kapitalflucht ins Betongold voran, stets mit dem begeisterten Schlachtruf, dort könne man traumhafte Renditen um 4 Prozent erzielen, während man für das bei der Bank geparkte Geld bald Strafgebühren zahlen müsse. Nebenbei wird der örtliche Oberbürgermeister beschimpft, weil er sich angeblich keine Vorstellung davon macht, wie schwer es für Arbeitskräfte ist, eine Wohnung zu finden … Und die eigenen Wohnungsbestände, nun ja, die sind halt mittlerweile futsch, zum Spielball einer Spekulation geworden, die man als produzierendes Unternehmen der Realwirtschaft gar nicht laut genug beklagen kann …

Die Folgen der Kapitalflucht ins Betongold sind mittlerweile dramatisch. Nach der Finanzkrise von 2007 ff. sind die Preise für baureife unbebaute Grundstücke in München in einem einzigen Kalenderjahr um 100 Prozent gestiegen. Um 100 Prozent! Wenn das kein leistungsloses Einkommen unvorstellbaren Ausmaßes ist! Aber natürlich muss dem Rausch die Ernüchterung folgen: Bei allen künftigen Käufern und Bewohnern, die sich auf einem verdoppelten Preisniveau bewegen müssen.

Statt einer letzten These eine Frage: Was folgt aus der Erkenntnis, dass viele Städte durch Armuts- oder Reichtumswanderung in Bedrängnis geraten? Die Vorstellung, man könne in einem Kontinent der Freizügigkeit bei der Zuwanderung eine Stopptaste drücken oder gar Wanderungsbewegungen, die bereits stattgefunden haben, mit einer Löschtaste ungeschehen machen, ist vollkommen naiv, wirklichkeitsfremd und verantwortungslos, weil sie hier lebende Menschen für unerwünscht erklärt und nicht einmal ansatzweise darstellen kann, mit welchen grundrechtskonformen Instrumenten das angestrebte Leitbild realisiert werden soll. Deshalb vernimmt man aus dieser Ecke nur Ressentiments gegen Minderheiten und keine Auskunft über angestrebte Maßnahmen.

Die Kommunalpolitik muss sich allerdings schon jetzt fragen und wird sich in Zukunft verstärkt fragen müssen,

  • ob Wanderungsbewegungen auch noch beschleunigt werden sollen oder im Gegenteil gebremst werden müssen,
  • ob es zur Landflucht aus den ländlichen Räumen keine Alternative im Sinne eines polyzentrischen Konzeptes mit verschiedenen Kristallisationspunkten des Wachstums auch außerhalb der Metropolen gibt und
  • ob Interessen der Kapitalverwertung, die den Städten einen ständigen Wachstumsprozess bis hin zur Dimension alptraumhafter Megacitys aufzwängen, wirklich die oberste Richtschnur sein können.

Die Frage, wie die Städte beschaffen sein sollen, in denen wir morgen leben möchten und ob es überhaupt Instrumente zur Realisierung dieser Wünsche gibt, ist die schwierigste aber auch spannendste und politischste Frage der Kommunalpolitik.

Und schließlich: Die Tatsache, dass atemberaubende Kapitalflüsse die historisch gewachsenen Städte nicht unberührt lassen, sondern im Gegenteil den bisherigen sozialen Ausgleich und Zusammenhalt vor Ort sprengen können, was zunehmend auch stadträumlich sichtbar wird (Gated Communities für Reiche und Ghettos für Arme), zwingt zu der Einsicht, dass Kommunalpolitik nicht in abgeschirmten Reservaten stattfindet, sondern der weltweit zunehmenden Spaltung von Arm und Reich ausgeliefert ist, so dass kommunale Probleme und ökonomische Systemfragen im Kontext zu diskutieren sind.

Kolumne: Reden
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Christian Ude