Das letzte Jahr war für Karl Heinz Böhms Äthiopienhilfe „Menschen für Menschen“ eine besondere Herausforderung: Der Tod von Karl, wie ihn seine Freunde kurz nannten, hat uns alle schwer getroffen und verunsichert. Er war ja nicht nur der „Gründungsvater“ dieses Hilfswerks, er hat die Öffentlichkeit im deutschsprachigen Raum für dieses Thema erst wachgerüttelt und sensibilisiert, hat über Jahrzehnte hinweg mit seiner Popularität und seinem Renommee ein unvorstellbares Spendenaufkommen generiert, hat den richtigen Ansatz für nachhaltige Entwicklungsarbeit gefunden und sowohl der Präsenz der Stiftung in Europa als auch der Aufbauarbeit in den äthiopischen Projektgebieten ein vertrautes und vertrauenswürdiges Gesicht gegeben, er hat „Menschen für Menschen“ nicht nur geleitet, sondern verkörpert. Da ist es selbstverständlich, dass sein Tod – auch wenn wir um seine angeschlagene Gesundheit wussten – einen Schock und tiefe Trauer ausgelöst, eine überdimensionale Lücke aufgerissen und die Frage aufgeworfen hat, wie es ohne ihn weitergehen kann, soll, muss.
Das Jahr wurde gut genutzt
Dabei war von Anfang an klar: eine Einzelperson, die ihn in allen seinen Wirkungsmöglichkeiten ersetzt, kann und wird es nicht geben. Umso mehr sind jetzt Teamwork und Professionalisierung gefragt. Die vergangenen zwölf Monate wurden dafür gut genutzt. In der Geschäftsführung sind neben dem bewährten ehrenamtlichen Element zwei hochkarätige Experten der Entwicklungsarbeit und des Stiftungswesens hauptberuflich tätig, die Arbeit der Gremien Stiftungsrat und Kuratorium wurde intensiviert und auch satzungstechnisch gestärkt, die Mittelverwendung mehrfach von neutralen Instanzen geprüft und gut geheißen, mit Almaz Böhm und Sara Nuru geben zwei namhafte und engagierte Persönlichkeiten der Stiftung ein äthiopisches Gesicht, mit dem Spendenaufkommen geht es nach unbestreitbaren Rückschlägen wieder aufwärts, die ehrenamtlichen Helfer, seit Jahrzehnten das Rückgrat der Stiftung und ihrer Vertrauensarbeit, geben hier auf ihrer Jahreskonferenz in Frankfurt ein hochmotiviertes Bild ab.
Im Wettbewerb der Spendenaufrufe
Auch der Wettbewerb der Spendenaufrufe war eine Herausforderung. Immer neue Erdbeben, Flutkatastrophen, Bürgerkriege, Terrormilizen, Flüchtlingsströme. Natürlich muss auf neue Katastrophen mit spontaner Hilfe reagiert werden, kann nicht jeder Aufruf, der einmal Priorität hatte, dauerhaft an der Spitze bleiben. Aber die Einsicht, dass eine langfristig angelegte Hilfe zur Selbsthilfe in einem der ärmsten Länder der Welt nicht angesichts anderer Katastrophen abgebrochen werden darf, sondern kontinuierlich fortgesetzt werden muss, hat sich doch erfreulicher Weise durchgesetzt.
In Afrika helfen – aktueller denn je
Manche Stimmen leiten aus den Flüchtlingszahlen in Deutschland ab, das Elend sei mit den Flüchtlingen (vor allem aus Syrien) bei uns eingezogen, da sei jetzt zu Hause Not am Mann, Hilfe vor Ort am Nächstliegenden und überdies auch ohne großen Aufwand möglich. Das ist ja alles richtig – und niemand, der dazu in der Lage ist, wird sich Hilfen für Flüchtlinge in Deutschland verweigern. Das eine tun und das andere nicht lassen wäre die richtige Antwort auf das Näherrücken der afrikanischen Tragödie. Meines Erachtens machen gerade die beklemmenden Flüchtlingsströme aus sehr verschiedenen Regionen Afrikas deutlich, wie richtig der Ansatz von Karl vor 35 Jahren war: Die Lebensbedingungen in Afrika müssen lebenswürdig gestaltet werden – nicht durch gönnerhafte Almosen, sondern durch Hilfe zur Selbsthilfe, auf Augenhöhe. Perspektiven für Afrika
Leider kann solche Hilfe nicht überall geleistet werden: nicht dort, wo ein Bürgerkrieg tobt, nicht dort, wo eine Terrormiliz wütet. Das ist schon schmerzhaft. Aber umso wichtiger ist es, in den Regionen, in denen dies möglich ist, Entwicklungsarbeit zu leisten und humane Bedingungen zu schaffen, damit Perspektiven für Afrika sichtbar werden. Die Projekte von „Menschen für Menschen“ haben die Lebensbedingungen für Millionen Menschen nachhaltig verbessert, inzwischen sprechen wir wohl begründet von fünf Millionen. Dies ist nicht nur im wahrsten Sinne des Wortes lebensentscheidend für die Betroffenen, sondern ein Beweis, dass Überleben, Selbsthilfe, Existenzgründung, autonome Landwirtschaft, bessere Gesundheitsvorsorge und Gleichberechtigung von Mann und Frau auch in den ärmsten Regionen Afrikas möglich sind. Das ist die politische Dimension der Stiftungsarbeit – nicht durch Parteinahme in Konflikten, die Karl wohlweislich stets abgelehnt hat, sondern durch die Realisierung der Vision, dass „Menschen für Menschen“ tätig werden müssen.
Vermag staatliche Entwicklungshilfe mehr?
Trotzdem gibt es Stimmen – vor allem im Netz -, die tatsächlich behaupten, private Spendengelder und Stiftungsarbeit würden nur „die Politik“, „den Staat“, „die Wirtschaft“ oder „die Banken“ aus der Verantwortung nehmen, Lasten auf Privathaushalte abwälzen. Daran ist zwar richtig, dass die nationale und vor allem internationale Politik in die Pflicht genommen werden muss, für die Menschenrechte in Afrika einzutreten, die Mittel für Entwicklungshilfe aufzustocken und endlich aufzuhören, beispielsweise mit hochsubventionierten europäischen Lebensmitteln die afrikanische Landwirtschaft oder ganze Volkswirtschaften mit Schuldenlasten zu ruinieren – aber können wir wirklich wollen, dass staatliche Entwicklungshilfe das einzige Modell der Hilfen für Afrika werden solle? China tut derzeit wohl am meisten. Aber es sichert nicht die Zukunft Afrikas, sondern den eigenen Zugriff auf Rohstoffe. Andere Staaten in Ost und West erweitern nur eigene Einflusszonen oder sichern Marktanteile. Viele kostspielige Industrieanlagen fördern vor allem die Wirtschaft der Herkunftsländer und schaffen langjährige Abhängigkeiten, sind geradezu das Gegenteil von „Hilfe zur Selbsthilfe“. Das schreit doch nach dem Kontrastprogramm einer Entwicklungsarbeit, die tatsächlich für Menschen da ist und nicht für die eigenen Macht- und Marktinteressen der reichen Länder!
Eine Einladung, die man nicht ablehnen kann
Persönlich bin ich auf alle diese Themen nicht aus eigenem Antrieb gestoßen, sondern durch einen Besuch von Karl Heinz Böhm im Münchner Rathaus. Wir kannten uns überhaupt nicht, aber sein Name stand plötzlich im Terminkalender. Er erschien pünktlich in meinem Amtszimmer und meinte ohne alle Umschweife, ich hätte ausgesprochen vernünftige Ansichten, sodass es nur mit einem Versehen erklärt werden könne, dass ich nicht aktiv für „Menschen für Menschen“ tätig sei. Um in Zukunft jeder Debatte gewachsen zu sein, warum ich unaufhörlich die Werbetrommel für seine Äthiopienhilfe rühre, müsse ich mich allerdings erst einmal in den Projektgebieten umsehen, wozu er mich herzlich einlade. Das geschah auch – und anschließend rührten wir brav die Werbetrommel, meine Frau mit Fotoausstellungen, ich mit Artikelserien und einer Fernsehreportage, später mit der „Städtewette“, die ich als Präsident des Städtetags unterstützen konnte.
Selbsterklärendes und Erklärungsbedürftiges
Dabei lernte ich, dass erfreulich vieles an der Arbeit von „Menschen für Menschen“ zum Glück selbsterklärend ist und jedem Gutwilligen auf Anhieb einleuchtet, dass anderes aber der Erläuterung bedarf, um verstanden und richtig bewertet zu werden.
Selbsterklärend ist beispielsweise, dass immer mehr Brunnen erforderlich sind, damit die Dorfbevölkerung nicht durch verschmutztes Wasser angesteckt wird und Mädchen und Frauen nicht schwere Wasserkanister stundenlang von weit entfernten Brunnen heranschleppen müssen; dass Bewässerungsanlagen gebraucht werden, damit die Ernte nicht verdorrt; dass man erst Schulgebäude an Stelle der bisherigen dunklen Lehmhütten bauen muss, damit die Kinder überhaupt etwas lernen können; dass Millionen Setzlinge benötigt werden, um kahle Landschaften wieder aufzuforsten; dass Ackerbau und Viehzucht gelehrt werden müssen, um den Ertrag einer oft noch steinzeitlich wirkenden Landwirtschaft zu steigern; dass Gesundheitsstationen und Kliniken geschaffen werden müssen, wenn die Menschen nicht an längst heilbaren Krankheiten sterben oder erblinden sollen. Das versteht jeder. Und die hervorragende Öffentlichkeitsarbeit der Stiftung hat diese Themen äußerst erfolgreich ins öffentliche Bewusstsein gehoben.
Erosionsschutz schafft Überlebenschancen
Aber anderes ist erklärungsbedürftig – und muss im Wettbewerb der Spendenaufrufe künftig vielleicht noch etwas nachdrücklicher dargelegt werden, um deutlich zu machen, dass bei „Menschen für Menschen“ wirklich jeder Euro gut angelegt ist, auch bei „sperrigen Themen“. Ich selbst habe erst in Äthiopien verstanden, was dort „Erosion“ bedeutet. Wir verstehen in den Alpen darunter, dass einzelne Felsen ins Rutschen geraten oder dass Skifahrer Grashügel abwetzen. Aber in Äthiopien bedeutet Erosion, dass komplette Berghänge abgleiten und dass sich am Hang wie im Tal unüberwindliche Erdrisse auftun. Da bedeutet Erosionsschutz, drohende Katastrophen abzuwenden und den Menschen ihr Land für Ackerbau und Viehzucht wiederzugeben. Terrassierung bedeutet Überlebenschancen, nicht Berghangkosmetik.
Brücken und Treppen als „Tor zur Welt“
Oder Brücken, Treppen, Straßen. Ist dafür nicht der Staat zuständig? Natürlich wäre er das, in Addis Abeba und zwischen den Städten kommt er dem ja auch nach. Aber wenn ein Dorf von der Außenwelt restlos abgeschnitten ist durch steile Berghänge, tiefe Schluchten oder unüberwindliche Entfernungen, kann man lange warten auf die staatliche Infrastruktur, die noch nicht einmal für die Menschenmassen in den Städten reicht. Eine Brücke über eine Schlucht und eine Treppe am Steilhang retten Leben und ermöglichen erst den Kontakt und den Austausch mit der Außenwelt – auch wenn wir lieber mit unserer Spende den Impfstoff zur Rettung eines Menschenlebens beisteuern als einen winzigen Bruchteil zu einer Stahlbrücke.
Kampf gegen schädliche Traditionen
Besonders eindrucksvoll fand ich Karls Kampf gegen „schädliche Traditionen“, vor allem gegen die entsetzliche Genitalverstümmelung bei Frauen, die nur Ahnungslose oder Zyniker mit der Beschneidung von Knaben gleichsetzen können. Karl sprach in überfüllten Sälen vor hunderten Menschen – wohlgemerkt in kleinen Dörfern. Alle waren da. Nur weil er schon so viel Hilfe gebracht hatte, hörte man ihm, dem Weißen, dem Europäer, überhaupt zu. Er kam nicht mit Belehrungen oder Rechtsbegriffen daher, sondern mit der Frage, ob nicht die Frauen „das schönste sind, was wir haben“? Zustimmendes Schmunzeln bei Männern und Frauen. Und dann die Nachfrage, ob es nicht furchtbar dumm sei, das schönste, was man hat, selber kaputt zu machen?! Und Mitgliedern der eigenen Familie, die man doch schützen muss, selber Schmerzen zu bereiten? Und am Sex weniger Spaß zu haben, weil die Partnerin auch weniger hat? Es war zu spüren, wie im Saal mitgedacht und zugestimmt wurde. Solche Aufklärungsarbeit, die tatsächlich den überfälligen Kulturwandel herbeiführen kann, ist nur möglich in einem integrierten Konzept, das zunächst einmal Vertrauen in die Helfer (und nicht Oberlehrer oder Strafrichter) aus Europa schafft.
Gründerdarlehen – nobelpreiswürdig
Wie grandios ein anderer Baustein der MfM-Arbeit ist, habe ich erst Jahre später – im Münchner Rathaus begriffen. Da kannte ich schon das Kleinkreditprogramm, das manche Äthiopierin in die Lage versetzt hatte, eine alte Singer-Nähmaschine sowie Textil-Vorräte zu kaufen und neben der Kindererziehung eine Änderungsschneiderei aufzumachen. Andere hatten sich einen Herd, Möbel und Geschirr angeschafft und ein winziges Restaurant eröffnet. Dass diese Idee nobelpreiswürdig war, habe ich erst später erfahren – von einem Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, der mich auf seiner Europatournee im Rathaus besuchte und mir sein Geschäftsmodell einer Entwicklungsbank erklärte. Sie vergibt Darlehen ohne Sicherheiten an Existenzgründer und kann sie nach Rückzahlung mitsamt äußerst bescheidenen Zinsen erneut ausreichen. Und der Witz? fragte ich. „Der Witz ist, dass die Gründer Gründerinnen sein müssen. Männer würden das Darlehen sofort versaufen. Frauen hingegen denken an ihre Kinder, wollen ihrer Familie eine Existenzgrundlage schaffen, da brauchen Sie als Bank keine Sicherheit!“ Da konnte ich auftrumpfen: „Das macht Karl Heinz Böhm doch schon seit Jahren!“
Kritik – klar widerlegt
Trotz vieler Pioniertaten und einer begeisternden Leistungsbilanz, die ihresgleichen sucht, war „Menschen für Menschen“ im vergangenen Jahr auch öffentlicher Kritik ausgesetzt – genauer gesagt war es Kritik von einer einzigen Person, die aber mit großem finanziellen Aufwand in den Medien breit gestreut wurde. Die Vorwürfe wurden sorgfältig geprüft und haben sich als haltlos erwiesen.
Erster „Vorwurf“: die Schulgebäude bleiben nicht im Besitz der Stiftung, sondern werden dem äthiopischen Staat übereignet. Was soll daran skandalös sein? Karl Heinz Böhm wollte von Anfang an keine ausländischen Privatschulen errichten, sondern das öffentliche Schulwesen unterstützen – für alle Kinder in den Projektgebieten. Die Pflichten des Staates nach Übergabe der Gebäude sind vertraglich klar geregelt. Skandalös ist allenfalls das Vorgehen des Kritikers, der den Eindruck erweckte, er habe eine Fehlentwicklung „entdeckt“, während er sich in Wahrheit gegen den Kern von Böhms Konzept wendet, dem mittlerweile nahezu 400 Schulgebäude zu verdanken sind.
Zweiter Punkt: die Schulgebäude seien zu teuer. Neutrale Prüfungen haben aber die Angemessenheit der Preise bestätigt. Natürlich gibt es auch im Schulbau unterschiedliche Standards. Es spricht nicht gegen, sondern für MfM, dass sich die Stiftung für nachhaltige Schulbauten mit langer Lebensdauer entschlossen hat.
Dritter Punkt: Die Stiftung gebe gar nicht alle Spendenmittel für die Linderung der Not aus, sondern horte ein hohes Guthaben. Der vermutlich dümmste Vorwurf. Karl Heinz Böhm war immer stolz darauf, auch größere Projekte beginnen und langfristige Verpflichtungen eingehen zu können, weil Rücklagen die Fortsetzung der Arbeit garantieren und unabhängig machen von Schwankungen des Spendenaufkommens. Das nennt man Nachhaltigkeit! Die Zukunftssicherung zumindest für die Laufzeit großer Projekte und vieler Arbeitsverhältnisse ist ein Vorzug und kein Makel der Stiftung!
Übrigens hat sich der Kritiker einmal in einer Mail „verplappert“: er forderte, dass in einer Stiftung der Großspender „das Sagen haben“ müsse. Irrtum! „Das Sagen“ hat der Stifterwille, wie er in über 30 Jahren in der Praxis konkretisiert wurde, haben die Organe der Stiftung – und alle, die spenden und mitarbeiten, wobei „Menschen für Menschen“ auf die hier versammelten ehrenamtlichen Helfer besonders stolz sein kann. Für Großspenden ist die Stiftung natürlich besonders dankbar. Aber käuflich ist sie nicht.
Christian Ude, Mitglied des Stiftungsrats