Beim Thema „Griechenland“ hat sich noch keiner mit Ruhm bekleckert. Alle müssen runter vom hohen Ross – findet Christian Ude, Münchens Alt-Oberbürgermeister und seit vielen Jahren temporärer Wahl-Grieche.
Leitartikel in der Zeitung „Münchner Feuilleton“ vom 8. 8. bis 9. 10. 2015
Eine Zeitlang schien es so, als würde in Griechenland, ja in ganz Europa und besonders in Deutschland, zumindest im Netz, heftig und erregt über gegensätzliche politische Konzepte gestritten, die den Weg aus jedweder Krise – auch in Spanien und Portugal, auch in Italien – weisen könnten. Die einen verkündeten den endgültigen Sieg einer neoliberal begründeten Sparpolitik unter entsprechenden Auflagen, andere den Beginn eines sozialen Zeitalters, wenn der Funke aus Griechenland auf andere Mittelmeerländer übergreift, dritte die Rettung von Wirtschaft und Kontinent, wenn man nur die Griechen aus der Euro-Zone werfe, womit ihnen selbst angeblich am meisten gedient wäre. Tage politischer Leidenschaft. Motto: Je komplexer die Probleme, desto simpler die Antworten. Auf allen Seiten.
Dann geschah viel Skurriles. Tsipras verließ polternd die Brüsseler Runde, um sie bald wieder als Bittsteller aufzusuchen. Er bat sein Volk um einen Nein beim Referendum, das er bekam und sogleich in ein Ja umwandelte. Angela Merkel beteuerte, dass Europa niemals eine Haftungsunion werden dürfe, um dann nebenbei mitzuteilen, dass wir längst in dreistelliger Milliardenhöhe haften. Die europäischen Gremien priesen den Euro als Friedensgarant für den Kontinent, um erschrocken festzustellen, dass nichts so feindselige Emotionen zwischen den Völkern Europas in Wallung bringt als eben dieser Euro. Die „Institutionen“, die einmal „Troika“ hießen, machten sich an weitere Sparvorschläge, obwohl die bisherigen schon genug Unheil angerichtet hatten. Irgendwie nahm das allen Beteiligten die Gewissheit, das Patentrezept in der Tasche zu haben. Der Gipfel der Erregung – mit maßloser Anprangerung der Sündenböcke – ist überschritten, jetzt kommen die Mühen der Ebene.
Die Versuche, sich davonzustehlen, sind auf allen Seiten gescheitert. Nach der Entzauberung sämtlicher Akteure wäre es Zeit für eine nüchterne Bestandsaufnahme. Wenn beispielsweise jetzt alle sagen, dass es ein Geburtsfehler des Euro gewesen sei, eine gemeinsame Währung ohne gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik zu schaffen, dann muss endlich über eine Stärkung der europäischen Gremien nachgedacht werden und nicht über eine noch weitergehende Lähmung durch nationale Eigenbröteleien. Das war aber noch nie so unpopulär wie gegenwärtig – nachdem Europa und seine Institutionen von Athen wochenlang regelrecht vorgeführt worden sind und Autorität einbüßten. Gleichwohl muss die Stärkung Europas auf die Tagesordnung, wenn Europa nicht von Krise zu Krise stolpern und irgendwann tatsächlich scheitern soll.
Mehr Selbstkritik ist aber auch den Repräsentanten Griechenlands anzuraten. Es ist doch keine neoliberale Ideologie, sondern schlicht eine Tatsachenfeststellung, dass Griechenland ohne funktionierende Staatsverwaltung, ohne sozial ausgewogene Steuergesetzgebung und rigide Steuerfahndung, ohne Katasteramt und Beendigung unerträglicher Günstlings- und Privilegienwirtschaft nicht auf die Beine kommen kann. Wer Ehre und Stolz aller Griechen beschwört und die Augen vor diesen schmerzlichen Tatsachen verschließt, handelt nicht patriotisch, sondern zum Nachteil aller Griechen. Patriotismus könnte die griechische Oberschicht beweisen, indem sie ins Ausland verschobene Milliarden ins gepriesene Heimatland zurück holt.
Ebenso sollten deutsche Medien und Politiker vom hohen Ross heruntersteigen. Ein Volk als raffgierig hinzustellen, das riesige Kürzungen hinnehmen musste und an Massenarbeitslosigkeit leidet, ist schlicht geschmacklos. Und die Rolle deutscher Politiker und Unternehmen bei unsinnigen griechischen Rüstungskäufen und skandalösen Korruptionsfällen sollte auch nicht selbstgerecht unter den Teppich gekehrt werden. Dass Hilfsprogramme zunächst den Banken zugute kommen, macht sie nicht falsch (oder haben Sie die Folgen der Pleite der Lehman-Brothers schon vergessen?), aber als wohltätige Spende sollte man sie auch nicht anpreisen.
Alle wissen, dass Griechenland seine Schulden niemals in vollem Umfang zurückzahlen kann und schon aus humanitären Gründen weitere Milliardenhilfen brauchen wird, mit oder ohne Grexit. Ebenso klar ist, dass es keine Vorzugsbehandlung geben kann, solange Athen nicht das griechische Sündenregister anpackt und Anstrengungen unternimmt, die andere Länder in Finanznot längst hinter sich haben. Wenn Athen sich anstrengt – aber erst dann – wird man über den Schuldenschnitt reden können und die Forderungskataloge aus Brüssel auf den Prüfstand stellen müssen. Da ist manches dabei, was mehr schadet als nützt, lähmt statt beflügelt. Und die Aufbauhilfen sind nach ausbaufähig. Aber wenn Athen keinen guten Willen zeigt, nur Geschenkkörbe statt Hilfspaketen fordert, kann sogar das dritte Hilfsprogramm noch scheitern. Dann käme nach der Ebene der Abgrund.
Wir hier in Isar-Athen haben seit Ludwig I eine philhellenische Einstellung und mit der griechischen Gemeinde ein leuchtendes Vorbild gelungener Integration. Hier muss es möglich sein, feindselige Zerrbilder von angeblich „gefräßigen Griechen“ und einem angeblich drohenden „Vierten Reich“ zu überwinden und eine bewährte Völkerfreundschaft gegen aggressive Stimmungsmache zu verteidigen (in BEIDE Richtungen). Die Lösung der griechischen Krise kann nur aus Hilfe UND Selbsthilfe bestehen.