Christian Ude

Abschiedsbrief als OB

Von am 8. Juli 2013

Liebes München,

einen Abschiedsbrief soll ich Dir also schreiben. Meint die Redaktion. Abschied. Das könnte denen so passen. Oder gar Dir? Da hättest Du dich aber sauber getäuscht. Eine Trennung kommt ja überhaupt nicht in Frage, stand niemals zur Debatte, weil ich mir ein Leben anderswo gar nicht vorstellen kann und erst recht nicht vorstellen mag. Abgesehen von den Ferien natürlich, aber das war ja immer schon so.

Dabei ist meine Liebe zu Dir noch immer nicht spannungsfrei. Obwohl mein Amt mir reichlich lange Gelegenheit gegeben hat, mich ständig mit Dir zu identifizieren. Das mach‘ ich ja auch: mal leidenschaftlich, mal pflichtschuldigst. Ich kann es schon im Schlaf aufsagen: „Im Städtevergleich steht München prächtig da …, die deutsche Großstadt mit den höchsten Einkommen, den meisten DAX-Unternehmen, den besten Zukunftschancen …, dem höchsten Freizeitwert und einem großartigen Kulturangebot …, die Wälder, Seen und Berge in der Nähe .. in den Olymp der Messestädte aufstiegen…“ Und dann die ganze Litanei (ohne Mieten natürlich). Aber andererseits … Ja, es hat immer ein andererseits gegeben.

Wie sollte man auch ohne ambivalente Gefühle zu einer Stadt stehen können, die einerseits eine Hochburg der Gegenreformation war, andererseits aber ein Herrscher- haus hatte, das uns Protestanten das Bürgerrecht verschaffte und den Juden wie den Griechisch-Orthodoxen das erste Gotteshaus schenkte? Zu einer Stadt, die zwar lange eine verschlafene königliche Residenzstadt war, aber in Schwabing das erste abstrakte Bild der Kunstgeschichte und im Universitätsviertel die ersten Sternstunden des Kabaretts erleben durfte? Zu einer Stadt, in der einerseits die Hitler- Bewegung in dumpfen Bierkellern die ersten Erfolge feierte, der Völkische Beobachter erschien, das Braune Haus stand und das erste KZ des Dritten Reiches geplant wurde, die andererseits aber auch Männer wie Wilhelm Hoegner, Frauen wie Toni Pfülf und den Widerstand der Weißen Rose hervorbrachte? Zu einer Stadt, die vor noch gar nicht allzu langer Zeit mit muffiger Enge erschreckte und sich dann doch zu großstädtischer Liberalität durchrang? Zu einer Stadt schließlich, in der die Schickeria protziger als anderswo auftrumpft, aber der soziale Zusammenhalt (Stiftungen! Spenden! Ehrenamt!) ebenso herausragt?

Vielleicht ist das ja gerade Dein Reiz: Dass Du anders bist. Anders als jedes Klischee, das die Tourismuswerbung und der Lokalpatriotismus einerseits und bitterböse Analysen andererseits hervorbringen können. Was bist Du denn nun? Ein Stein gewordenes Gedächtnis mit unzähligen Baudenkmälern oder ein Entwurf für die Stadt von morgen? Natürlich beides. Eine fast schon ernst zu nehmende Weltstadt oder eine Ansammlung dörflicher Situationen? Natürlich beides. Das ist sehr widersprüchlich und unstimmig, aber ich möchte wie jeder München-Liebhaber keinen dieser Aspekte vermissen.

Vom Augsburger Bert Brecht stammt die Geschichte alter Bekannter, die sich nach langer Zeit wieder begegnen. „Sie haben sich gar nicht verändert“, sagt der eine. Vom anderen heißt es nur, dass er „oh“ sagte und erbleichte. Will sagen: Wir halten es für ein Kompliment, treuherzig zu beteuern, dass das Gegenüber noch aussehe wie einst im Mai; dabei ist der Gedanke, sich nicht verändert, nicht entwickelt, nicht dazugelernt zu haben, in Wahrheit doch schrecklich. Bei Städten ist das nicht anders. Wir freuen uns über alles Vertraute, das unverändert blieb, wissen aber doch, dass die Stadt nicht erstarren sollte wie Lots Weib. Eine Stadt ist niemals fertig. Für junge Leute, für nachfolgende Generationen wäre es entsetzlich, wenn es anders wäre.

Trotzdem ist uns bei mancher Veränderung nicht wohl. Ich brauche nur in den Zug zu steigen und die Neubaukulissen längs des Gleiskörpers studieren, dann springt mich schon die Frage an: Welcher Depp hat das genehmigt? Aber so einfach ist es ja nicht, dass in den Neubauten stets der Geschmack des Stadtoberhaupts Niederschlag finden würde. Da gibt es Wettbewerbe mit größten Preisgerichten, allmächtige architektonische Moden, immer beengendere planungsrechtliche Zwänge, streng kalkulierende Investoren, Beteiligungsverfahren in Hülle und Fülle – und ein Verantwortlicher ist nach alledem nicht mehr zu ermitteln. Wie wohl die meisten meiner Kollegen will ich in meinem Abschlusszeugnis nicht nur ein Urteil über das Neubaugeschehen lesen.

Dabei sind die neuen Stadtquartiere und herausragenden Bauten häufig besser als ihr Ruf: Der Landschaftspark auf dem ehemaligen Flughafengelände ist eine Wucht, in der Messestadt lässt sichs gut leben, mit einem Badesee, einem Rodelhügel und U-Bahnstationen direkt vor der Tür, wie auch in den neuen Vierteln am nördlichen Stadtrand oder auf ehemaligen Kasernenarealen: nicht spektakulär genug für die Titelseiten von Architekturzeitschriften und den Beifall des Feuilletons, aber nutzerfreundlich und alltagstauglich, ökologisch sinnvoll und gut durchgrünt. Das Jüdische Zentrum am St. Jakobs-Platz, also buchstäblich im Herzen der Stadt, ist für mich die beglückendste Veränderung der letzten zwei Jahrzehnte, ein Triumph der Opfer über die Täter, der Sockel der Synagoge erinnert an die Klagemauer, der transparente Aufbau weist auf Jakobs Zelte hin. Die skulpturale BMW-Welt behauptet sich zwischen Olympiadach und Vierzylinder, gibt der Marke eine Heimat. Noch weiter nördlich kannst Du mit der Allianz-Arena glänzen und nachts buchstäblich leuchten, rot oder blau, je nachdem welcher Verein gerade spielt. Lass‘ andere Bundesliga-Städte ruhig über das Schlauchboot „lästern“ oder auf die „Arroganz-Arena“ schimpfen, das stärkste Motiv dabei dürfte schlicht der Neid sein.

Aber ich will nicht nur über Neubauten reden. Vielmehr bewegen uns oft die Metamorphosen im Bestand. Warum ist Dir das Facelifting so wichtig? Warum muss alles überall so aufgehübscht werden? Warum dreht sich die Preisspirale so schnell nach oben? Warum muss Wohlstand so penetrant zelebriert werden, obwohl ihn doch viele vermissen müssen? Da würde ich mir mehr Gelassenheit statt unermüdlichem Geschäftssinn, mehr Nachlässigkeit statt Prahlerei, mehr soziales Verständnis statt eitlem Geltungsdrang wünschen.

Am meisten freue ich mich darauf, nach dem Abschied aus politischer Verantwortung (wann immer das sein mag) mehr Zeit für Dich zu haben. All die kulturellen Angebote intensiv zu genießen, statt nach dem eigenen Grußwort blitzschnell wieder verschwinden zu müssen. Zum Beispiel das Lenbachhaus, wo man im Garten einen Kurzurlaub in der Toskana genießen oder im Museumsrestaurant einen Blick nach Griechenland auf die Propyläen werfen kann. Oder im Schauspielhaus der Kammerspiele, die mit bestem Theater begeistern oder in der Villa Stuck, die als architektonisches Kleinod an die große Zeit des Jugendstils erinnert.

Oder die wunderbar renaturierte Isar, die auch uns ältere Münchner zum Radfahren einlädt, zu herrlichen Ausflügen bis zur Menterschwaige oder bis Großhesselohe.
Quer durch eine Millionenstadt zieht sich ein Flussbett mit Kiesflächen und Spielwiesen, Bäumen und Sträuchern und bewaldeten Hängen. Bewahre Dir das! Es gehört zu Deinen Vorzügen, denen man jetzt endlich in anderen Großstädten nacheifert!
Lass‘ Dir nicht einreden, dass ausgerechnet dieses Tal unbedingt zugepflastert werden müsste mit Event-Terrassen, Großgastronomie und Rummelangeboten der Spaßgesellschaft! Bewahre die Qualitäten dieser Flusslandschaft, dann will ich auch gerne auf meinem Drahtesel beim Cowboy-Club an der Floßlände als „Häuptling Rote Feder“ einkehren – in dem Tal, in dem einst die ersten Western-Stummfilme gedreht wurden. Auch bei der Surfer-Welle neben dem Haus der Kunst werde ich öfter vorbeischauen und staunen, wie man auf einem winzigen Abschnitt eines Stadtbachs wellenreiten kann wie in Hawai.

Wie an der Klagemauer. Wie in der Toskana. Wie in Griechenland. Wie im Wilden Westen. Wie in Hawaii. Hast Du schon einmal darüber nachgedacht, wie viele Deiner Liebhaber große Illusionskünstler sind? Aber die Zuneigung zu Dir ist nicht bloß Einbildung, die ist schon echt!

Wirklich: Wir werden viel Zeit miteinander verbringen, viel Spaß und weniger Ärger miteinander haben. Und hoffentlich gemeinsam feststellen, dass Deine letzten 20 Jahre nicht die schlechtesten waren.

Dein
Christian Ude

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