10 Jahre Jüdisches Zentrum auf dem St. Jakobsplatz
Beitrag von Christian Ude im „Münchner Merkur“ vom 9. November 2016
Der St. Jakobsplatz war ein Verdrussthema. Schon seit langer Zeit. Mitten in der Altstadt, in der jeder Quadratmeter umkämpft und unbezahlbar ist, eine Brachfläche! Innerhalb des Altstadtrings ein Abstellplatz für Busse und Autos. München-Liebhaber sprachen wegen des Stadtmuseums von einem „Platz der Stadtgeschichte“, Vertreter der Immobilienbranche von einem „Filet-Grundstück“. Doch es ging nichts voran, weil das Geld für den beabsichtigten V. Bauabschnitt des Museums nicht aufzutreiben war und auch andere öffentliche oder kulturelle Nutzungen scheiterten. Im Herzen der Stadt wurde auf einer Kiesfläche – geparkt. Ein Verdruss.
Da erschien – schon bald nach meiner Wahl – die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde, Charlotte Knobloch, in meinem Amtszimmer: Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs werde ihre Gemeinde wieder wachsen, und deshalb brauche sie eine neue Synagoge, die nicht im Hinterhof versteckt ist, und weitere Einrichtungen für jüdisches Leben. Und zwar auf dem St. Jakobsplatz, der kaum genutzt wird, aber zentral liegt und repräsentativ wirkt und der ehemaligen Hauptstadt der Bewegung als Standort eines Jüdischen Zentrums gut anstehen würde. Dieser Gedanke hat mich sofort elektrisiert, nicht nur wegen der Perspektive für den stiefmütterlich vernachlässigten Platz, sondern wegen der Zukunft des jüdischen Lebens in München. Dieses Thema hatte mich seit meiner Schulzeit bedrückt. Damals war ich Landesvorsitzender der bayerischen Schülerredakteure gewesen, und unser wichtigster Schutzpatron war der Volkshochschuldirektor Dr. Hans Lamm gewesen, der Amtsvorgänger von Charlotte Knobloch. Er hatte mir sein Buch „Vergangene Tage“ geschenkt, ein umfangreiches Werk über „Jüdische Kultur in München“. Der Umschlag zeigt die große, stattliche Synagoge im Vordergrund und die Frauenkirche dahinter. Auf Führerbefehl war sie von der Stadt München (!) abgerissen worden, schon vor den Brandschatzungen des 9. November 1938. Durfte dieser barbarische Akt das letzte Wort bleiben? Natürlich nicht. Aber was konnte man tun?
Ein Schwabinger Nachbarskind und Jugendfreund, Richard Grimm, gründete privat ein klitzekleines jüdisches Museum. Anrührend als private Initiative, aber beschämend für die Stadt. Rachel Salamander gründete die Literaturhandlung und präsentierte Judaika, entfachte intellektuelles Leben. Aber auch dies war – privat. Max Mannheimer, der die Hölle des Holocaust miterleben musste und ihr nur knapp entkam, entschied sich in hohem Alter, seine Erfahrungen und die Lehren daraus an die Jugend weiter zu geben – aber dies lebte von einer einzigen Person, ihrer Betroffenheit, Glaubwürdigkeit und Versöhnungsbereitschaft.
Charlotte Knobloch hatte ebenfalls Unfassbares erlebt, schon als Kind die Grausamkeit der Pogromnacht, aber sie war die offizielle Stimme des Judentums in unserer Stadt, und sie hatte eine Vision: ein Ort jüdischen Lebens, eine jüdische Zukunft im Herzen der Stadt! Das war ein Weg, den Sieg der Opfer über die Täter sichtbar und spürbar zu machen, den anfangs hier nur „auf Koffern lebenden“ jüdischen Menschen Geborgenheit und Zuversicht zu vermitteln. Und für die Stadt die Chance, dem finstersten Kapitel ihrer Geschichte, die nicht verdrängt oder übertönt werden darf, eine Aufarbeitung der Vergangenheit, einen Neuanfang des Zusammenlebens mit jüdischen Bürgern entgegenzusetzen.
Schon beim ersten Gespräch über diese Vision sagte ich Charlotte Knobloch zu, ihr Anliegen zur „Chefsache“ zu machen – was nichts daran änderte, dass ein zehnjähriger Hürdenlauf begann. Aber jede Hürde konnte genommen werden. Es spricht für das Projekt, dass seine Kritiker ihre damaligen Einwände nicht mehr erheben und nicht einmal mehr wahr haben wollen, dass sie jemals vorgetragen wurden: Das Raumprogramm sei zu umfangreich, die Sicherheit nicht zu gewährleisten, ein Ersatz für den Bunker nicht zu beschaffen, eine Finanzierung nicht hinzubekommen, der Bus-Parkplatz für die Tourismus-Destination München unentbehrlich… Es gab sogar jüdische Bedenken: Die Stadt errichte hier „wieder einmal“ ein Ghetto…
Als zur Eröffnung eingeladen wurde, planten Neonazis einen Anschlag, der von der Polizei zum Glück vereitelt werden konnte. Durch den Hass der Rechtsextremisten wurde deutlich: Es ging hier nicht nur um einen Raum für eine Glaubensgemeinschaft, es ging um eine Standortbestimmung, um das Selbstverständnis und eine Zukunftsperspektive der gesamten Stadtgesellschaft.
Als der Bauzaun fiel, empfand ich Glück: Der Sockel der Synagoge erinnert an die Klagemauer und vermittelt Zeitlosigkeit, der transparente Aufbau hingegen ruft die „Zelte Jakobs“ ins Gedächtnis und weist auf die zahllosen Provisorien jüdischen Lebens hin. Dies war und bleibt ein großer Wurf der Architektin Rena Wandel-Hoefer und ihres Büros. Und der „Gang der Erinnerung“, der Synagoge und Gemeindezentrum verbindet, erinnert an die rund 4500 deportierten und ermordeten Juden aus München: an alle und namentlich an jeden einzelnen. Später habe ich es als beklemmend empfunden, dass auch Teile meiner Partei der jüdischen Gemeinde das Recht absprechen wollten, über die angemessenen Formen des Gedenkens mitzuentscheiden – weil sie doch „nur eine Opfergruppe von vielen“ darstelle. Ich stimme der Gemeinde zu: Wenn einzelne, dann alle. Und in würdiger Form, nicht im Straßenstaub. Der „Gang der Erinnerung“ hat Maßstäbe gesetzt, hinter die niemand mehr zurückgehen sollte.
Und das Zentrum? Es dient natürlich vor allem der Gemeinde, die schneller wächst, als man sich beim Fall des Eisernen Vorhangs vorstellen konnte. Aber es ist mehr. Bei der Grundsteinlegung hatte ich den Wunsch geäußert: „Es möge nicht nur die Hochburg einer Gemeinschaft sein, sondern ein Forum der Stadtgesellschaft, mit einer großen Binnenpluralität.“ Tatsächlich ist diese Erwartung übertroffen worden. Nur ein Beispiel: Der Empfang zur Eröffnung des ökumenischen Kirchentags fand im jüdischen Gemeindezentrum statt. Ein bewegendes Ereignis, wenn man an Verirrungen der Vergangenheit denkt. Es spricht nicht nur für die Gastgeberin, sondern auch für die Gäste, dass dieses großartige Symbol Interreligiöser Zusammenarbeit möglich war. Ein Gemeindezentrum mit diesem Selbstverständnis ist nicht nur ein Glücksfall für „die eigenen Leute“, sondern für die ganze Stadt. Eine Zukunftsperspektive nicht nur für die jüdische Gemeinde, sondern für alle, die noch lernen müssen, dass Integration nicht nur Anerkennung von Regeln bedeutet, sondern auch, dass man sich einbringen darf und muss, dass man sich austauschen und auch andere zusammen führen sollte, statt bevormunden oder abschotten zu wollen oder nur unter Gleichgesinnten zu bleiben.
Der große Max Mannheimer hat einmal in eher spöttischem Tonfall gesagt, man sollte das Zentrum am St. Jakobsplatz „Charlottenburg“ nennen. Ich halte das für einen guten Vorschlag, weil er deutlich macht, was hier eine ganze Stadt einer Frau zu verdanken hat.