Beitrag von Christian Ude in der Zeitschrift der Hilfsorganisation „Refugio“, November 2016
Flucht – dieses Phänomen ist so alt wie die Menschheitsgeschichte. Schon das Alte Testament berichtet darüber. Alle Kapitel der Geschichte kennen Menschen, die in großer Zahl vor Verfolgung und Unterdrückung fliehen mussten, vor Gewalt und Krieg, vor Zerstörungen ihrer Umwelt durch Naturgewalt oder menschliche Ausbeutung, vor Elend und Perspektivlosigkeit am bisherigen Lebensort. Gerade Bayern kann mit eigenen Erfahrungen aufwarten: ein Drittel der Bevölkerung machte sich einst als „Wirtschaftsflüchtling“ auf den Weg in die Neue Welt. Und umgekehrt kamen in kein anderes Bundesland so viele Vertriebene wie nach Bayern, wo die Sudetendeutschen sogar als „Vierter Stamm“ gewürdigt werden. Die Bayern, die als Wirtschaftsflüchtlinge nach Amerika gingen, haben wir verdrängt. Die Umstände, die bei der Ankunft der Vertriebenen herrschten, ebenso: sie wurden nicht als Arbeitskräfte aus dem eigenen Kulturkreis willkommen geheißen, sondern wenn möglich als unerwünschte Mitesser vom Hof gejagt, als „Rucksackdeutsche“ verhöhnt und weitergetrieben. Ihre Integration gehört zu den größten Leistungen der Nachkriegszeit – auf beiden Seiten – und beweist, dass mehr möglich ist, als erste aggressive Reaktionen vermuten lassen.
Wenn es Flucht in großem Stil seit Menschengedenken gibt, müsste die Menschheit eigentlich stets darauf gefasst und vorbereitet sein. Die Wahrheit ist: Wir waren es nicht. Wir alle nicht, weil wir uns die Dimensionen des Jahres 2015 nicht vorstellen konnten. Die Zahl der Flüchtlinge weltweit beträgt inzwischen 60 Millionen. Die riesige Mehrheit befindet sich in Nachbarländern der Herkunftsländer, aber Millionen wollen nach Europa, und dort in die ökonomisch erfolgreichsten Länder, also besonders viele nach Deutschland. Seien wir ehrlich: wer diese Dimensionen vor fünf oder gar zehn Jahren vorher gesagt hätte, wäre gerade von den Befürwortern offener Grenzen als Hysteriker und Panikmacher und Helfershelfer von Rechtspopulisten gebrandmarkt worden.
Warum konnten wir alle uns die Flüchtlingszahlen des letzten Jahres und vermutlich auch künftiger Jahre so lange Zeit nicht vorstellen? Weil auch wir den arabischen Frühling völlig falsch eingeschätzt haben. Weil wir ihn für den Beginn der Demokratisierung der arabischen Länder hielten und nicht für den Auftakt eines Desasters mit unabsehbaren Folgen. Weil viele auch hierzulande den „Krieg gegen den Terror“ nach dem 9. September für plausibel hielten und nicht voraussehen konnten, dass Georg W. Bush mit seinem völkerrechtswidrigen Irak-Krieg buchstäblich dem islamischen Staat den Weg frei bombte und die massenhafte Rekrutierung neuer Terroristen ermöglichte. Weil sich andere nicht vorstellen wollten, dass Russland das Assad-Regime bei der Bombardierung der eigenen Bevölkerung tatkräftig unterstützen und so die Fluchtgründe vervielfachen würde. Weil Europa dies alles nicht stoppen konnte, sondern mit Waffenlieferungen und eigenen Militäraktionen weiter befeuern wollte. Und weil wir alle die grenzenlose Barbarei angeblich religiös geprägter Hassprediger und Gewaltverbrecher, die ja unverändert mehr islamische „Glaubensbrüder“ auf dem Gewissen haben als westliche Opfer, zu Beginn der Radikalisierungsprozesse nicht „auf dem Schirm hatten“. Und was die afrikanische Zukunft betrifft: Weil der Norden auch Jahrzehnte nach den Empfehlungen von Willy Brandts Nord-Süd-Kommission nicht einmal anfangen will, dem schwarzen Erdteil beim Aufbau einer Selbstversorgung und einer Kreislaufwirtschaft zu helfen – es erscheint den Verantwortlichen nach wie vor lukrativer, die afrikanische Wirtschaft mit subventionierten EU-Produkten zu überschwemmen und schon im Ansatz zu ruinieren.
Deshalb waren wir überrascht – und auch unvorbereitet. Zusätzlich hat Europa versucht, den jeweils anderen Mitgliedsstaaten eine Falle zu stellen. Man sollte selbstkritisch der Versuchung widerstehen, blitzschnell zwischen Guten und Bösen zu unterscheiden und sich selbst zu den Guten zu zählen.
Für alle in Europa gilt: es ist eine Menschenpflicht, Menschen in Not zu helfen. Ein Gebot der Menschlichkeit, dem man sich nicht mit advokatischen Tricks entziehen kann. Und es ist eine völkerrechtliche Pflicht, Kriegsflüchtlinge aufzunehmen. Und es gibt ein deutsches Verfassungsgebot, das Asylrecht im gegebenen Rahmen zu gewähren, was ein rechtsstaatliches Verfahren erfordert. Und es gibt Hindernisse, eine Abschiebung vorzunehmen, etwa bei gesundheitlicher Gefährdung, bei drohender Folter oder Todesstrafe, aber auch, wenn das Herkunftsland mit staatlicher Macht die Rückführung unmöglich macht.
Deutschland war keineswegs beim Thema „Europäische Solidarität“ immer bei den Guten. Das „Dubliner Abkommen“ war vielmehr der große gemeinsame Versuch der starken Wirtschaftsmächte in der EU, die größte Last bei den armen Ländern abzuladen, die wegen ihrer geographischen Lage am Mittelmeer alle Flüchtlinge, die auf dem Seeweg kommen, aufnehmen müssen und als „Sicherer Drittstaat“ nicht „weiterreichen“ dürfen. Auch Jahre nach dem Anfang des Syrien-Krieges funktioniert weder die Unterstützung bei der Sicherung der Außengrenzen noch die mittlerweile zugesagte Übernahme von Kontingenten. Das war und ist unsere deutsche Solidarität. Öffentlicher Massenprotest war dabei ebenso wenig zu vernehmen wie bei der drastischen Kürzung der Welt-Ernährungshilfen in Flüchtlingscamps der Region. Solidarität wurde in der deutschen Politik erst groß geschrieben, als die Verteilung der Flüchtlinge auf alle EU-Länder urplötzlich unser Problem war. Erhöht es uns wirklich moralisch, wenn sich die anderen Mitgliedsländer jetzt so verhalten, wie wir zuvor? Ins stünde „moralische Bescheidenheit“ besser zu Gesicht als jedwede Selbstgerechtigkeit, nur weil Dublin in der Praxis scheiterte.
Als die Rechtspopulisten 2016 so weiter hetzten, wie sie 2015 angesichts der allabendlichen Flüchtlingskolonnen in den Abendnachrichten begonnen hatten, fuhren ihnen Regierung und Parlament, Kirchen und Medien in die Parade: Die Zahlen sind doch nicht mehr so schlimm! Was soll Eure Panikmache? Das stimmte. Schon 2015 war die Millionengrenze nicht überschritten worden, 2016 gingen die Zahlen auf einen Bruchteil zurück. Aber ist es intellektuell redlich, mit diesem Rückgang regelrecht aufzutrumpfen, wenn er nicht auf die Beseitigung von Fluchtgründen, auf ein Angebot von Alternativen oder ein Umdenken der Flüchtlinge zurückzuführen ist, sondern nahezu ausschließlich auf die Blockierung der Fluchtwege, die man vorher nicht empört genug verurteilen konnte, sei es in Mazedonien, in Ungarn oder Österreich oder schon vorher an den Außengrenzen, also im Mittelmeer? Wer diese Blockaden aufheben will, muss auch einräumen, dass die Zahlen dann wieder in die Höhe schnellen würden. Das ändert nichts an unseren humanitären, völkerrechtlichen und grundgesetzlichen Pflichten – aber es würde die Glaubwürdigkeit steigern – und die tatsächliche Größe künftiger Aufgaben sichtbar werden lassen.
Dies hätte nämlich deutliche Auswirkungen auf unsere Spielräume. Natürlich wärmt es unser Herz, wenn wir sagen: Kein Mensch ist illegal. Wenn wir offene Grenzen fordern. Wenn wir Bleiberecht für jeden verlangen. Ausdrücklich auch dann, wenn kein völkerrechtlicher oder grundgesetzlicher Grund für ein Bleiberecht vorliegt! Dann sind wir nicht nur die Guten, sondern die Besseren, ja, die Allerbesten – denn welcher Staat, welche Demokratie handelt schon so – bei vergleichbarer Bevölkerungsdichte und vergleichbarem Andrang?
Wenn man absehen kann, wie viele Antragsteller mit Bleibeperspektive auf uns zukommen können und wahrscheinlich werden, dürfte es fahrlässig sein, über jedes heute schon bestehende Bleiberecht und jede geregelte Zuwanderung hinaus auch noch ein Bleiberecht für jeden zu fordern, der es irgendwie hierher geschafft hat – egal mit welchen Mitteln und Methoden. Genau dies versprechen aber die Parolen „Niemand ist illegal“ und „Bleiberecht für alle“.
Schon 2015 hätte Deutschland die Aufgabe niemals bewältigt ohne das ehrenamtliche Engagement, das in jedem Einzelfall freiwillig und uneigennützig eingebracht wurde. Niemand kann über diese Ressource beliebig verfügen, niemand kann sie für unerschöpflich erklären. Somit gibt es Kapazitätsgrenzen – oder gefährdete Standards. Wenn das Bleiberecht tatsächlich „auf alle“ ausgedehnt werden würde, was so unglaublich menschlich klingt, würden nicht nur die Helfer überfordert, sondern auch die Perspektiven jener verdüstert, die nach bestehender Rechtslage jetzt oder künftig ein Bleiberecht haben. Flüchtlingspolitik braucht neben Verfassungstreue und Hilfsbereitschaft auch Realismus, intellektuelle Redlichkeit und auf Dauer politische Mehrheiten. Moralisch überlegen zu sein ist manchmal einfacher als politische Mehrheiten zu sichern. Aber auch weniger hilfreich.