Treffpunkt Traumstadt am 7. Dezember 2016
Nachdem ich 1947 das Licht der Welt erblickt hatte, wurde ich gleich anschließend mit dem Lärm der Schauburg konfrontiert – genauer gesagt mit dem Lärm der Betreiberin dieses in der Nachkriegszeit so stolzen Schwabinger Kinos. Aber das ist eine längere Geschichte.
Die Schauburg war in meiner Kindheit ein imposanter Kinotempel mit sage und schreibe über 1.000 Sitzplätzen. Die Betreiberin, unsere Wohnungsnachbarin Frau Ulrich, zeigte dort Filmkunst wie „Les enfants du paradis“, aber auch Kitschfilme wie sie in den 50-er Jahren unermüdlich hervorgebracht wurden. Für Frau Ulrich war der alte deutsche Film aber nicht kitschig genug, und so dachte sie, dass es noch schönere Geschichten mit einem noch schöneren Happyend geben müsse. Das ließ sie, wenn sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf erwachte, in die Tasten einer alten Büroschreibmaschine greifen. Tag für Tag entstanden so unter dem Pseudonym Ina Gall bis zum Morgengrauen grauenhafte Groschenromane, die auch tatsächlich veröffentlicht wurden, oft mit 6-stelligen Auflagen. Eines der Heftl wurde sogar verfilmt, überflüssig zu sagen, dass es jedenfalls nach Meinung der Schwabinger Literaten ein grauenhafter Film war. Gleichwohl gelang es Frau Ulrich, mit der Doppelfunktion als Kinobetreiberin und Groschenromanautorin ein Vermögen anzuhäufen, das es ihr erlaubte, in der damals schon sehr repräsentativen und begehrten Elisabethstraße nicht etwa nur eine Wohnung, sondern ein gesamtes Haus zu erwerben. Was das Ganze mit mir zu tun hat?
Ganz einfach. Frau Ulrich wohnte in der Bauerstraße 9 im 4. Geschoss Mitte, unsere Familie gleich nebenan. Mein Kinderzimmer war nur durch eine dünne Wand von ihrem Schreibmaschinenraum entfernt und durch ihr Geklimper wurde ich regelmäßig zur Unzeit aus dem Schlaf gerissen. Dies führte bei mir zu einem ausgesprochen gespaltenen Verhältnis zur Schauburg: Einerseits war ich durch Schwarz-Weiß-Filme wie „Die Kinder des Olymp“ von der Traumstätte am Elisabethplatz verzaubert, andererseits fand ich es empörend, dass die Betreiberin trotz der ganztägigen Beschallung ihres Publikums in der Schauburg auch noch zuhause Lärm machen musste, und das zu nachtschlafender Zeit.
So ging das die ganzen 50-er Jahre. In den 60-er Jahren musste sie die Schauburg, der das Publikum langsam aber sicher abhanden kam, eines Tages aufgeben und sich fortan auf ihren Friseursalon im eigenen Haus am Elisabethplatz konzentrieren. Gleich nebenan, in der Imbissstube, konnte sie aber nach wie vor eine stattliche Entourage trinkfester Zeitgenossen um sich versammeln. Stets zugegen war der berühmte Schwabinger Toni, ein Hilfspförtner aus dem Münchner Zeitungsverlag, der es dank seines urbayerischen Aussehens mit schwarzem Rauschebart, dickem Bierbauch, rot-weiß-kariertem Hemd, schwarzer Hirschlederhose, Wadlstrümpfen und Haferlschuhen zu vielen Statistenrollen im Film und im wirklichen Leben brachte. So durfte er sogar in einem französischen Streifen mit Jean Paul Belmondo auftreten – während der Weltstar im Vordergrund Heldentaten vollbrachte, trieb der Toni im Hintergrund Kühe über die Almwiese. Mit Cassius Clay trat er sogar im Zirkus Krone in den Ring, natürlich nur als Gag für ein Pressefoto, aberdieses Bild ging um die Welt und hing jahrzehntelang in der Imbissstube. Toni erledigte für Frau Ulrich die Einkäufe und brachte ihren Ascheneimer runter zu den Tonnen.
Während Frau Ulrich langsam in bester Gesellschaft in die Jahre kam, erlebte die Schauburg eine Pleite nach der anderen. Dem Kintopsterben folgte nach kurzem Intermezzo der Konkurs eines Privattheaters – und gemeinsam mit der Rocklegende Peter Kraus vom Kaiserplatz rissen sich Anusch und Temur Samy, die international bekannten Samy Brothers, die berühmt-berüchtigten Könige von Schwabing mit dem Drugstore am WedekindPlatz und der Goldenen Hand vor der Citta 2000 in der Leopoldstraße auch noch das verwaiste Schauburggebäude unter den Nagel, um dort einen Beat-Schuppen zu eröffnen, der es 5 Jahre lang zu einer spektakulären Disco-Legende brachte, mit Raum für mehr als
2.000 zugelassenen Gästen, mit 250 Scheinwerfern sowie mit Lautsprechern, die nach Auskunft des Hamburger „Spiegel“ jeden Starfighter an Phonstärke überflügeln konnten. Benannt wurde der Schuppen nach Michelangelo Antonionis Film „Blow up“. Zur Eröffnung erschienen über 3.000 Gäste und später so berühmte Leute wie Pink Floyd, Jimi Hendrix, Sammy Davis jun. Wie im Guggenheim-Museum zu New York führte an den Außenwänden eine gewagte Gangway zu den verschiedenen Ebenen des Gebäudes – dort konnten Go-Go-Girls tanzen oder Gäste der tanzenden Menge von oben zusehen. Es war die wildeste Zeit des Hauses.
In Frau Ulrich rief diese ruhmreiche Zeit Erinnerungen an ihre wohl auch sehr bewegte Jugend wach. Ich war in der Zwischenzeit – immer noch in der Bauerstraße 9 – ins Erdgeschoss gezogen und hatte dort eine kleine studentische Wohngemeinschaft gegründet. Mit uns lebten 2 Katzen. Schwarznas, die dank einer großen schwarzen Augenklappe eine richtige Piraten-Visage hatte, und ihre Schwester Weißnas, deren schwarz-weißes Fell einen ganz ordentlich gepflegten schwarzen Schnurrbart auf weißem Hintergrund präsentierte. Während Schwarznas in den Kohlenkellern der Nachbarschaft herumvagabundierte, saß die schüchterne Weißnas auf dem Fensterblech und blickte versonnen in den Fliederbusch des Vorgartens. Da saß sie nun – und Frau Ulrich erkannte auf ihren zahllosen Wegen zum Friseursalon in der Elisabethstraße in der Katze den ebenfalls schnauzbärtigen Colonel der US-Army wieder, der in der Militärregierung für die Kino-Lizenzen zuständig war und ihr als besonders reizvoller Verkörperung des Fräuleinwunders die Lizenz für die Schauburg zugeschanzt hatte. Das hat sie mir selbst erzählt – und so verstand ich jetzt als aufgeklärter Student, warum die Nachbarschaft in meiner Kindheit immer getuschelt hatte, Frau Ulrich habe die Schauburg „im Schlaf erworben“, was ich mir in kindlicher Unschuld noch nicht erklären konnte. Die Erinnerung an den Colonel wärmte der einstigen Lizenzträgerin so sehr das Herz, dass sie das dringende Verlangen hatte, sich bei Weißnas für diese Reminiszenz zu bedanken. Also brachte Frau Ulrich zwar nicht am Montag, weil da ihr Friseursalon Ruhetag hatte, wohl aber jeden Dienstag, Mittwoch und Donnerstag unserer Wohngemeinschaft von der Freibank auf dem Elisabethmarkt eine Plastiktüte mit Leber und Nierchen mit, als kleinen Dank für die Katze, „die mich so an meinen Colonel erinnert“. Am Freitag gab es übrigens nichts, weil Frau Ulrich von Stammgästen in der Imbissstube erfahren hatte, dass beide Katzen jeden Freitag die hochfrequentierte Elisabethstraße überquerten, um in der Nordseehalle Fischreste zu schnorren, die da in Holzkisten gestapelt waren. Aber immerhin gab es eine stabile DiMiDo-Beziehung, was den Haushalt der Wohngemeinschaft spürbar entlastete und Weißnas zur einzigen Schwabinger Katze werden ließ, die mit ihrem Posieren auf dem Fensterblech den eigenen Lebensunterhalt selbst verdienen konnte. Die Innereien aus der Freibank ließen auch mir die Schauburg immer mehr ans Herz wachsen.
Ansonsten habe ich den Disco-Betrieb nicht mitbekommen, da wir linken Studenten damals bis weit über Mitternacht diskutierten und keine Zeit für Vergnügungen hatten. Dass ich das Blow up überhaupt einmal von innen gesehen habe, ist Günter Grass zu verdanken, der im September 1969 erst auf dem Lenbachplatz die Zeitschrift der sozialdemokratischen Wählerinitiative verteilte, dann im überfüllten Löwenbräukeller am Stiglmaierplatz nachdrücklich empfahl, EsPeDe zu wählen und anschließend nach 23 Uhr noch unbedingt das mittlerweile weltberühmte „Blow up“ in eine Wahlkampfbühne „umfunktionieren“ wollte, wie man das damals in Studentenkreisen nannte. Dabei stellte sich aber schnell heraus, dass der spätere Literatur-Nobelpreisträger gegen die beiden gerade aktiven Go-Go-Girls auf dem Gangway keine Chance hatte. Die bürgerliche Presse in Gestalt der Süddeutschen Zeitung hat sich in unerträglicher Weise an den konsumsüchtigen Zeitgeist angebiedert und der wahrhaft sozialdemokratischen Volksaufklärung mit Hohn und Spott eine Absage erteilt. Dort hieß es, der Blechtrommler sei auf taube Ohren gestoßen, „weil das Publikum Beat hören wollte und nichts über die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall“. Noch peinlicher als dieser Text war freilich der Autorenname darunter: ein gewisser Christian Ude.
1972 war Schluss mit laut und lustig, das „Blow up“ genauso pleite wie vorher Kintop und Privattheater. Der Vertrag mit der Supermarktkette Coop war schon unterschrieben, als sich der Vorstand des SPD-Kreisverbands Schwabing/Milbertshofen/Am Hart in meiner Studentenbude mit dem schönen Blick auf den Fliederbusch traf. Als Vorsitzender schlug ich dem Kreisverband 8 vor, im Sinne der „Doppelstrategie“ der Jungsozialisten auf die uneinsichtigen Amtswalter im Rathaus von zwei Seiten aus Druck auszuüben, innerparteilich und auch von außen, um das Gebäude für eine sozio-kulturelle Nutzung in Anspruch zu nehmen. Die beiden anwesenden Stadträte Theo Giesen und Georg Schuck versprachen, die gute Sache in ihrer Fraktion zu vertreten, der Bildhauer Johannes Leismüller entwarf ein Plakat, das zur Rettung der Schauburg aufrief und vor allem vor dem Supermarkt warnte, der den Elisabethmarkt zweifellos schwer schädigen würde. Die Standlbetreiber haben viel schneller als die Schwabinger Kulturschaffenden begriffen, dass hier eine Gefahr abzuwehren und eine Chance zu nutzen war. Da kam uns plötzlich eine weitere Schreckensnachricht zugute: Dem Theater der Jugend TdJ droht das Ende, weil die bisher genutzten Räume in der Reitmorstraße aus feuerpolizeilichen Gründen geschlossen werden müssen. Damit erreichte die Bürgerinitiative endlich den erforderlichen Zulauf: Standlbetreiber, Schwabing-Liebhaber, kulturell interessierte Bürger und das Theater der Jugend mit all seinen Freunden. 1977 konnte das Theater der Jugend in der Schauburg mit dem
„Märchen vom starken Hans“ eröffnet werden.
Doch damit war die Zukunft noch nicht in trockenen Tüchern. 1990 sollte ein multi-funktionales Raumprogramm mit variabler Bühne und modernster Technik realisiert werden.
Doch die Kostenexplosion fiel in Zeiten kommunaler Finanznot und sowohl die Contoller der Stadtverwaltung als auch die Fachleute der Kämmerei empfahlen Baustopp und Veräußerung. Da hatte ich dann als Kulturbürgermeister ein weiteres Mal die Aufgabe, die Schauburg zu retten – übrigens mit Zustimmung und Unterstützung der Kulturpolitiker aller Fraktionen, gegen alle Finanzer im Rathaus.
Der Rest ist bekannt. Seit 1990 ist der Holländer George Podt der Intendant, seit 2015 darf sich hier sogar die Schwabinger Traumstadt zuhause fühlen. Da das Theater der Jugend tatsächlich einmal als Märchenbühne begonnen hat, will ich märchenhaft schließen: „… und weil er nicht gestorben ist, lebt er immer noch in seiner Burg.“
Allerdings wird ihn die Traumstadt bei ihren nächsten Treffen am 8. und 9. April 2017 – nach weit mehr als einem Vierteljahrhundert grandioser Theaterarbeit – als Gastgeber ihrer Treffen verabschieden müssen. Die Schauburg selber wird dies erst Anfang Juli tun – passender Weise mit dem Stück „Der fliegende Holländer“.