Ich gratuliere! Chapeau! Besser hätte man es nicht besser machen können!
Dieses Lob des Laudators gilt zunächst einmal aber dem Politik Award. Seine Entscheidungsträger haben eine glänzende Wahl getroffen! Gerade in Zeiten modischer Politikverdrossenheit, in der ganze Berufszweige des verdrossenheitsproduzierenden Gewerbes davon leben, immer wieder die Mär zu erzählen, Politiker seien von Haus aus geistig minderbemittelt, charakterschwach, unglaubwürdig und geldgierig, stets darauf bedacht, sich die eigenen Taschen voll zu stopfen und das Leben eines Taugenichts zu genießen. Das ärgerlichste an dieser Sichtweise ist ja, dass sie nicht immer falsch ist. Aber oft. Und das müsste eigentlich berufsmäßige Politikbeobachter zum Differenzieren zwingen. Sogar in den Shows des öffentlich-rechtlichen Kasperltheaters. Aber lassen wir das.
HIER wird differenziert und offen zugegeben, dass es neben skandalösen oder peinlichen Akteuren beeindruckende, leistungsstarke und gemeinwohlorientierte politische Lebenswerke gibt – nicht nur einen, der dieses Jahr preiswürdig ist, sondern zwei, und das sogar mit unterschiedlicher Couleur, sodass nicht nur die jeweils politisch nahestehende Persönlichkeit, sondern auch der Wettbewerber, der Rivale, der Kontrahent Respekt und Anerkennung und sogar Dank verdient – ganz egal, wem von beiden man politisch nahesteht. Das ist schon etwas besonderes.
Das erste mal habe ich mich mit den Brüdern Vogel in meinem Volkshochschulkurs 1968 beschäftigt. Hans Jochen, der zwei Jahre zuvor triumphal mit 78 Prozent als Münchner Stadtoberhaupt bestätigt worden war, legte dar, warum sein Weg ihn zur Sozialdemokratie geführt habe – sehr stringent, sehr überzeugend. Da wollte ein Schülerredakteur wissen, wie es dann sein könne, dass sein Bruder Bernhard kürzlich Bezirksvorsitzender der CDU in der Pfalz geworden sei. Hans Jochen nahm sich viel Zeit für die Antwort, seufzte tief und schmunzelte dann: „Mei, er ist halt mein jüngerer Bruder.“ Wie ältere Geschwister halt so sind. Bernhards Revanche konnte ich mittlerweile öfter lesen: Die älterere Bruder habe nie richtig Eisenbahn spielen können, sondern immer Fahrpläne niedergeschrieben und zornig reagiert, wenn sie nicht allseits eingehalten wurden…
Trotz der sehr unterschiedlichen parteipolitischen Orientierung weisen die Lebensläufe der beiden verblüffende Parallelen auf: eine fundierte akademische Ausbildung, die sie für anspruchsvollste Laufbahnen qualifizierte, gleichwohl frühe Entscheidung für die Politik als Beruf – Bernhard wurde schon 1953 Stadtrat in Heidelberg, Hans Jochen 1960 nach Lehrjahren bei Wilhelm Hoegner Deutschlands jüngster Großstadtbürgermeister – Karrieren in höchste Ämter – Bernhard war zwei mal als Bundesratspräsident protokollarisch die Nummer 2 der Republik, Hans Jochen jahrelang die Nummer 1 der deutschen Sozialdemokratie und ihrer Bundestagsfraktion.
Sensationell, ja fast unfassbar die weitere Gemeinsamkeit, dass sie höchste Ämter, die sie im Westen bekleidet hatten, noch einmal im Osten einnahmen: Hans Jochen Vogel war nicht nur der extrem erfolgreiche Oberbürgermeister von Deutschlands heimlicher Hauptstadt München, der er Olympische Spiele, die Fußgängerzone, den Verkehrsverbund und einen Modernisierungsschub bescherte, sondern – wenn auch nur kurz – Regierender Bürgermeister der unheimlichen Hauptstadt, was ihn für die Folgen der Teilung sensibilisierte und für die Aufgabe der Wiedervereinigung motivierte – ein Glücksfall für die SPD, die 1989 ohne diese Erfahrungen ihres Vorsitzenden viel versäumt hätte. Bernhard Vogel war nicht nur ein parteiübergreifend angesehener und als Universitätsgründer herausragender Kultusminister, sondern auch zwölf Jahre lang ein äußerst erfolgreicher Ministerpräsident, ehe er nach einigen Jahren an der Spitze der Konrad-Adenauer-Stiftung Ministerpräsident in Thüringen wurde – kein gefürchteter Besserwessi, sondern einer, der im Osten mit Können und Erfahrung helfen wollte, was die Bevölkerung auch zu würdigen wusste.
Noch eine Gemeinsamkeit sticht ins Auge: Beiden wurde von der eigenen Partei nicht immer gedankt, was sie geleistet und eingebracht haben. Hans-Jochen Vogel erlebte zu Ende seiner Amtszeit als OB die ätzend scharfe Kritik der damaligen Studentenbewegung – Gott sei Dank lässt die knappe Redezeit nicht zu, auf die damalige unerquickliche Rolle des heutigen Laudators näher einzugehen – Bernhard wurde von der eigenen Landespartei regelrecht in die Wüste geschickt, was freilich für die rheinland-pfälzische CDU ärgere Folgen als für ihn hatte: sie muss heute noch das karge Brot der Opposition kauen, er kam als Phönix aus der Asche bald wieder in die Ministerpräsidentenkonferenz – und konnte in Thüringen sogar beweisen, dass er die absolute Mehrheit wieder zurückerobern kann. „Hochmut kommt vor den Fall“. Diese Lebensweisheit gilt halt auch für Delegiertenkonferenzen.
Noch eine Gemeinsamkeit fällt auf: Beide hatten höchste Ämter, brauchten und brauchen diese aber nicht, um eine gewichtige Rolle zu spielen und Engagement auch nach dem Amt zu beweisen: Hans Jochen Vogel ist weit jenseits der 80 ein wichtiger Ratgeber und Helfer geblieben – als dreifacher Nachfolger in der Stadt München, im Deutschen Städtetag und in der bayerischen SPD kann ich dies beurteilen und herzlich dafür danken – für seine oft schwankende SPD ist er ein Granitfels in der Brandung und für die Erinnerungskultur in Deutschland ein ständiger Anreger und Mahner. Bernhard Vogel, so fürchte ich, spielt für seine politische Heimat eine ebenso konstruktive Rolle.
Nur Gemeinsamkeiten zwischen den Brüdern!? Einen Unterschied immerhin habe ich entdeckt: Bernhard wurde Nachfolger von Helmut Kohl, als der lieber zum Opponieren nach Bonn übersiedeln wollte, Hans Jochen Vogel hat dies als Kanzlerkandidat auch probiert – und nicht geschafft. Da hat sich der älterer Bruder womöglich geärgert, dass sich niemand an seinen ausgegeklügelten Fahrplan halten wollte…
Aber dennoch: Was haben die beiden alles erlebt, gestaltet, zustande gebracht. Schier unglaublich! Auch wenn sie sich als Wahlkämpfer gerne aus dem Weg gingen, haben sie später richtig zusammengearbeitet: für das Buch „Deutschland aus der Vogel-Perspektive“. Eine kleine Geschichte der Bundesrepublik. „Vogelperspektive“ heißt natürlich auch „von oben“. Und: „Mit Überblick und Weitsicht“. In mehr als einem halben Jahrhundert hat ihr Selbstbewusstsein keinen Schaden genommen. Weil es halt auch keinen Anlass dazu gab. Keinen Skandal, keine Affäre, keinen Verstoß gegen gute Sitten, nicht einmal eine sprachliche Entgleisung, aber Jahrzehnte für das Gemeinwohl, Übereinstimmung von Worten und Taten, Orientierung am Programm, das von zwei verschiedenen Parteien beschlossen wurde, aber im wesentlichen so gegensätzlich nicht war.
Ich sage „Gratuliere!“ „Chapeau!“ „Besser hätte man es nicht machen können! “ zu diesen beiden politischen Lebenswerken!