Christian Ude

Nun forscht mal schön!

Von am 4. Mai 2015

Was Praktiker von wissenschaftlichem Rat halten – und was sie dennoch erwarten

Beitrag für das Magazin FORSCHUNG LEBEN der Universität Stuttgart
Ausgabe Mai 2015

So, so. Ich soll mich hier also als Praktiker äußern. Praktiker. Das klingt in einem der Wissenschaft geweihten Publikationsorgan ein wenig nach tumbem Tor. Immerhin aber können Praktiker bestätigen, wie sie ohne wissenschaftlichen Rat ahnungslos durch die unbegreiflich komplexe Realität tappen würden. Tut mir Leid: Ich bin gar kein Praktiker mehr. Ich habe das hinter mir gelassen. Jetzt gilt für mich nur noch das Wort von Peter Ustinov, dass alte Männer gefährlich seien, weil sie nichts mehr fürchten müssen und deshalb sagen können, was sie denken.

Woran denke ich, der ehemalige Praktiker, wenn es um die Beratung durch die Wissenschaft geht? Offen gesagt, vor allem an Ratschläge, die zu befolgen der schlimmste Fehler war, der einem Praktiker unterlaufen kann.

Beispiele gefällig? Aus verschiedenen Jahrzehnten? Aus verschiedenen Disziplinen? Aber sicher doch. Mehr sogar, als Ihnen lieb sein kann.

„Hast Du mal nen Müll für mich?“

Ich war erst wenige Tage im Amt, als mir Professoren die Aufwartung machten, herbeigerufen von einer verschreckten Fachbehörde. Entsorgungsspezialisten. Ich wusste nicht einmal, dass es dafür Lehrstühle gab. Mit wissenschaftlichen Tabellen, die damals noch in Papierform überreicht wurden, weil die Power-Point-Präsentation noch nicht erfunden war, wurde mir dargelegt, dass die Müllberge rund um München pausenlos anwachsen würden, bei Tag und bei Nacht, bis die Stadt umstellt sei von einem Mittelgebirge voller Unrat. Deshalb gelte es, den bisher sträflich vernachlässigten Anforderungen der Fachbehörde nachzukommen, eine Deponie nach der anderen anzulegen und Müllkraftwerke zu errichten. Ein paar Jahre später sah ich mich in einer neuen Zwangssituation, herbeigeführt durch den Rat professoraler Experten und auf Kosten des Steuerzahlers: Ich musste jede Sitzung des Städtetags nutzen, um die Bürgermeister der Umlandgemeinden oder rückständiger Kleinstädte anzupumpen, nach dem Motto: „Hast Du mal nen Müll für mich?“ Inzwischen war nämlich die fehlende Auslastung des Müllverbrennungswerkes zum öffentlichen Ärgernis geworden, die Kosten der Verbrennung stiegen unaufhörlich wegen der teuren Überkapazitäten, während die rückständigen Kommunalpolitiker draußen im Land für die Verbrennung ihres Unrats immer günstigere Konditionen aushandeln konnten. Kein Wissenschaftler hatte vorhergesehen, dass durch Müllvermeidung und Recycling die Müllmengen auch sinken können.

Flugbewegungen im Sinkflug

Ein Einzelfall? Aber wirklich nicht! Die Fluggastprognosen der Unternehmensberater, die sich auf wissenschaftliche Gutachten stützen konnten, sagten einen geradezu explosionsartig wachsenden Bedarf voraus. Die Zahlen der Fluggäste sind dann auch tatsächlich gestiegen, teilweise kräftiger als vorhergesagt. Aber auf einen anderen Gesichtspunkt hat niemand laut und deutlich hingewiesen: Auf die Tatsache nämlich, dass die Zahl der Flugbewegungen keineswegs in gleichem Ausmaß steigen muss wie die Zahl der Fluggäste, weil es im Gegenteil sogar möglich ist, dass immer mehr Fluggäste mit immer weniger Flugbewegungen abgefertigt werden. Die Erklärung ist sogar relativ simpel: Das Fluggerät wird immer größer, im neuen Elefant der Lüfte, dem A 380, kann man sogar ganze Hundertschaften interkontinentaler Geschäftsreisender und Touristen verstauen – und im Kostenwettbewerb gehen immer mehr Airlines dazu über, einen unzureichend ausgelasteten Flug einfach ausfallen zu lassen, damit die Fluggäste nach quälender Wartezeit in eine rappelvolle Maschine hineingestapelt werden können. Maßlose Übertreibung? Mitnichten! In den letzten 5 Jahren sind beim Münchner Airport die Fluggastzahlen kontinuierlich gestiegen und die Zahl der Flugbewegungen sank gleichwohl. Das weiß der Praktiker jetzt – hinterher. Kein Wissenschaftler hat es prognostiziert – vorher.

Wissenschaftler raten: Verscherbelt Eure Immobilien!

Manchmal wagen die wissenschaftlich geschulten Experten aber kühne Voraussagen. Zum Beispiel die Prognose, dass Großunternehmen in Teufelsküche kommen werden, wenn sie sich nicht rechtzeitig von ihrem unrentablen Immobilienbesitz trennen, also komplette Straßenzüge, Häuserblöcke und Siedlungen verscherbeln, um bessere Renditen zu erzielen. Was habe ich mir den Mund fransig geredet in Gesprächen mit den bedeutenden Vorständen namhafter Unternehmen, dass sie doch um Himmelswillen ihren Wohnungsbestand behalten sollen und nicht der Altbauspekulation überlassen dürfen. Natürlich sei es schön und richtig, antworteten sie, wenn die Wohungsbestände in guten Händen bleiben und das Unternehmen dringend benötigten Fachkräften eigenen Wohnraum anbieten könne, aber die Betriebswirtschaftslehre, die Unternehmensberatung und ganze Heerscharen von Analysten würden dies einfach nicht erlauben. Die lächerliche Rendite von 4 Prozent im Wohnungsbestand sei nämlich in Zeiten des Turbo-Kapitalismus viel zu gering, mache das Unternehmen sogar zum Übernahmekandidaten, während doch auf dem amerikanischen Hypothekenmarkt mit seinen innovativen Finanzprodukten, wie den neuen Subprime-Papieren, der drei- bis vierfache Profit zu erzielen sei. Die Wissenschaft wies den Weg, der Unternehmensberater übernahm die Seelenmassage – und Zehntausende Wohnungen allein in München gerieten in die Zähne international agierender Immobilienhaie, die sich während ihrer Beutezüge noch recht harmlos gaben und hinterher rücksichtslos die Erkenntnis in die Tat umsetzten, dass man höhere Renditen halt nur erzielen kann, wenn man weniger Geld in die Instandhaltung setzt, aber mehr Geld aus der Vermietung herauspresst. In späteren Jahren – richtig: nach der Finanzkrise! – gaben die Firmenrepräsentanten sogar zu, dass man an der Börse sein Vermögen nicht nur verdoppeln, sondern auch ruinieren kann und dass es schon sehr schön wäre, jetzt für wohnungssuchende Mitarbeiter ein paar Häuserblocks zu besitzen. Aber das war verschüttete Milch. Jetzt konnte man, nach dem Debakel mit den Schrottpapieren nur noch die Flucht ins Betongold antreten, also alles aufkaufen, was der Immobilienmarkt bietet, mit der Folge völlig aberwitziger Preissteigerungen, die den Wohnungsmarkt für Jahrzehnte verderben. Die Betriebswirtschaftler rügen jetzt einfach die Rathäuser, weil sie nicht früh genug die Probleme des Wohnungsmarktes erkannt haben sollen und nicht genügend Wohnraum geschaffen haben, um alle zuziehenden Fachkräfte erschwinglich unterzubringen …

Gewerbesteuer: Ruinöser Rat von der Wissenschaft

Natürlich darf man solche Erfahrungen nicht verallgemeinern. Aber verteufelt ist es schon, wie oft sie sich wiederholen. Beispielsweise erinnere ich mich an viele Kolloquien und Akademietagungen, bei denen die besten Köpfe der Finanzwissenschaft brillierten mit der Forderung, die Gewerbesteuer endlich abzuschaffen, weil es nirgendwo auf der Welt mehr einen solchen Unfug gebe, weil diese Steuerquelle für die Kommunen ohnehin versiegen werde und weil sie die deutsche Wirtschaft ins Ausland vertreibe. Wir Praktiker aus den kommunalen Niederungen konnten dem nur unsere intellektuell glanzlose, aber immerhin zutreffende Erfahrung entgegenhalten, dass es Gewerbesteuern unter anderem Namen nahezu überall gibt, dass abgesehen von einigen politisch gewollten oder konjunkturell bedingten Dellen die Einnahmen aus der Gewerbesteuer von Jahr zu Jahr bedeutsamer werden, bis zu einer aktuellen Serie von Allzeitrekorden – und dass die Unternehmen keineswegs fluchtartig Deutschland verlassen, sondern ganz im Gegenteil hier trotz der schrecklichen Gewerbesteuer weltweit herausragende Exportüberschüsse erwirtschaften. Zum Glück hat der Bundesgesetzgeber nach zahllosen Anläufen, die Gewerbesteuer tatsächlich abzuschaffen, den Praktikern mehr geglaubt als den Repräsentanten von Forschung und Lehre – und damit, nur damit ist zu erklären, dass die deutschen Städte nicht komplett finanziell zusammengebrochen sind, sondern nur in strukturschwachen Gebieten.

Raus aus den Kartoffeln …

Habe ich noch eine Disziplin übersehen? Richtig! Die Organisationssoziologen, die Verwaltungslehre! Einige Jahre wurde uns gelehrt, dass wir die gesamte Stadtverwaltung umkrempeln müssen, dezentralisieren, bis auch die kleinste Einheit selber ihren Haushalt aufstellt und ihre Personal einstellt und mit eigenem Firmenlogo und Unternehmensleitbild der Kundschaft verkündet, dass ihr das Wohl der Menschheit am Herzen liegt (was bei allen anderen Dienststellen offenbar nicht der Fall ist). Mit Interesse verfolge ich, dass nach der größten Dezentralisierungswelle der Verwaltungsgeschichte erste Berater und Vortragskünstler wieder verkünden, dass es eine geniale Idee wäre, Personalentscheidungen und Finanzvorgänge, vor allem aber Auftragserteilungen zentral zusammenzufassen, weil man da auch Kompetenzen bündeln könne, was schließlich jeder Konzern auch tut. Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln …

Wälder opfern für das papierlose Büro

Auf keinen Fall will ich die Informatiker vergessen, die uns etwa in der gesamten ersten Hälfte meiner 21-jährigen Amtszeit das papierlose Büro versprochen haben, wenn wir nur genügend Geld für die IT-Strategie ausgeben und mindestens für jeden Mitarbeiter einen Computer anschaffen. Seitdem jede Kraft ihren eigenen PC hat und täglich aus Zeitmangel Dutzende E-Mails ausdruckt, auf deren Verteiler sie nur versehentlich geraten war, sind ganze Wälder abgeholzt worden, nur für den stetig steigenden Papierbedarf des Computer-Zeitalters. Bei Politikern würde man von einem gebrochenen Wahlversprechen reden und sie in die Wüste schicken – aber wohin schickt man IT-Berater, die ohnehin schon auf Nimmerwiedersehen verschwunden und deren Wartungsverträge längst ausgelaufen sind?

Gender Budgeting: Warten auf die Früchte neuer Moden

So wächst die Skepsis neuen Heilslehren gegenüber, auch wenn sie nicht mit religiöser Inbrunst, sondern mit wissenschaftlicher Autorität vorgetragen werden. Ich empfand von Anfang an dieses Misstrauen, als uns – wieder einmal von wissenschaftlich geschultem Personal – Gender Budgeting ans Herz gelegt wurde, ein aberwitziger bürokratischer Aufwand, um erstmals in der Menschheitsgeschichte herauszufinden, welchem Geschlecht die öffentlichen Ausgaben zu welchem Prozentsatz zugute kommen. Dass wir Ungerechtigkeiten und Vernachlässigungen aufspüren müssen, ist ja wahr. Aber noch keine Koryphäe des Gender Budgeting hat mir erklären können, welchen praktischen Nutzen der unermessliche Aufwand bei der Durchsuchung sämtlicher Haushaltspositionen bringt, der nicht auch auf anderem Wege viel einfacher und kostengünstiger erreicht werden könnte. Aber keiner will als Reaktionär dastehen. Also forscht mal schön! Und alle Kommunen warten folgsam darauf, dass diese neue Mode Früchte tragen möge.

Dabei wären Forschungsarbeiten, die den tatsächlichen Beratungsbedarf der kommunalen Praxis befriedigen, extrem sinnvoll, ja dringend notwendig. Ich nenne nur einige Beispiele:

Wie nähert man die Lebensbedingungen einander an?

Der weltweite Trend zur Verstädterung, zur Zentralisierung, zur Entleerung ländlicher Räume macht uns auch in Deutschland zu schaffen und ist sowohl in den boomenden Wachstumsregionen mit steigender Dichte, steigendem Wohnungsbedarf und Mietenniveau und vielen Stresssymptomen des Wachstums ein zentrales Problem als auch in den stagnierenden oder gar schrumpfenden Kommunen, die sich keineswegs über „mehr Platz“ und „sinkende Preise“ freuen können, sondern in erster Linie die negativen Folgen von Schrumpfungsprozessen erleiden: Weniger Arbeitsplätze, weniger Kaufkraft, weniger öffentliche Finanzkraft, weniger medizinische Versorgung, weniger Bildungs- und Kulturangebote, Wegzug der Jüngeren und, und, und. Analysen der Wachstumsprobleme wie auch der Schrumpfungsfolgen liegen zuhauf vor – aber welche Wissenschaft sagt den Praktikern, wie sich die auseinanderdriftenden Lebensbedingungen tatsächlich einander annähern lassen? Das wäre mein persönliches Forschungsthema Nummer 1.

Wanderungsbewegungen in einem Kontinent der Freizügigkeit

Und zweitens: Der Lebenslüge der Konservativen, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei, ist die progressive Lebenslüge gefolgt, dass jede Zuwanderung eine Bereicherung darstelle und bei gutem Willen oder menschlichem Anstand keine Probleme bereite. Beide Lebenslügen werden durch die kommunale Praxis widerlegt: Deutschland ist ein Einwanderungsland, seitdem die deutsche Wirtschaft und die Bundesagentur für Arbeit die Zuwanderung mit eigenen Abkommen und Werbemaßnahmen eingeleitet haben – und natürlich besteht ein Unterschied zwischen Zuwanderung in sozialversicherte Beschäftigungsverhältnisse und Zuwanderung in die Sozialsysteme (die zu akzeptieren und menschlich zu gestalten meist ein Verfassungsgebot oder eine humanitäre Pflicht ist, die aber für die Kommunen und die Sozialsysteme unbestreitbar andere Auswirkungen hat als die Zuwanderung in den Arbeitsmarkt – und dies sollte nicht tabuisiert werden). Wie Zuwanderung gesteuert werden kann und die Integration in den nächsten Jahrzehnten besser als in den letzten Dekaden gelingen kann, wäre auch ein bedeutsames Forschungsprojekt, auf dessen Ergebnisse die Praktiker geradezu begierig warten. Derzeit wissen wir noch nicht einmal, wie sich die Landflucht und der Wegzug aus Kleinstädten innerhalb der Bundesländer, innerhalb der Bundesrepublik abmildern oder vollends verhindern lässt – ganz zu schweigen von internationalen Wanderungsbewegungen.

Steuerung und Verteilung öffentlicher Finanzen

Und drittens: Besser als gegenwärtig wird die Konjunktur und damit die Einnahmesituation der öffentlichen Hand nach menschlichem Ermessen zu unseren Lebzeiten nicht mehr werden, eher schlechter (sei es wegen eines konjunkturellen Rückgangs, einer europäischen Finanzkrise oder einer internationalen Krisensituation). Trotzdem gehen gegenwärtig viele Kommunen und Regionen am Stock. Wie kann diese finanzpolitische Herausforderung gelöst werden? Nicht mit leeren Versprechungen, wie sie bei der jahrzehntelangen Debatte um die Gewerbesteuer gemacht wurden, sondern mit belastbaren Aussagen, welche Finanzströme umgelenkt werden müssen! Hier könnte die Wissenschaft, die nicht auf jede Stimmungslage und Anspruchshaltung Rücksicht nehmen muss, größte Verdienste erwerben.

Denn im Grunde warten wir Praktiker (wenn ich mich diesem Kreis noch einmal zurechnen darf) auf solchen Rat.

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